Die Verwandlung 11FREUNDE

Diese Reportage erschien erstmals in unserem 11FREUNDE-Spezial „Rekorde“. Das Heft gibt’s am Kiosk und hier im Shop.
Am Ende verloren sie auch noch den Überblick. Auf der Anzeigetafel flackerten die Zahlen 32 und 0. Der Schiedsrichter korrigierte das Ergebnis später in seinem Bericht, Australien hatte nämlich nur 31 Tore geschossen. Nicht in zehn Spielen, nicht in einer Saison, sondern in 90 Minuten. Es war der höchste Sieg, den je eine Mannschaft in einem internationalen Fußballspiel erreicht hatte. Oder eben: die höchste Niederlage. Der Verlierer war die Nationalelf von Amerikanisch-Samoa. Sie wurde nach dem Spiel, mehr oder weniger offiziell, zur schlechtesten Fußballmannschaft der Welt erkoren. In der FIFA-Weltrangliste belegte sie Platz 203 von 203. Sie war ein Slapstick-Team, eine Lachnummer, eine Mischung aus Cool Runnings und Eddie The Eagle. Denn diese Niederlage war kein Zufall. Auch in den zwei Jahrzehnten zuvor hatten sie ja jedes Spiel verloren, oft krachend, selbst gegen Teams, die ihrerseits nicht gerade als Fußballgroßmächte durchgehen: 0:13 gegen Fidschi, 0:18 gegen Tahiti, 0:20 gegen Papua-Neuguinea, und es schien immer so weiterzugehen.
Aber dann machte sich im Oktober 2011, rund zehn Jahre nach der Schmach gegen Australien, der Holländer Thomas Rongen auf den Weg nach Amerikanisch-Samoa. Zu Beginn seiner Profikarriere hatte er beim Amsterdamsche FC gespielt, mit Anfang 20 war er in die USA ausgewandert. In der NASL lief er für die Los Angeles Aztecs und die Fort Lauderdale Strikers auf. Er spielte gegen George Best und sein Idol Johan Cruyff, später wurde er selbst Trainer verschiedener MLS-Teams und der US-amerikanischen U20-Nationalelf. Nun aber hatte er ein sonderbares Jobangebot des US-amerikanischen Fußballverbands angenommen: Er sollte die Nationalelf von Amerikanisch-Samoa durch die WM-Qualifikation führen. Sie taktisch und technisch besser machen, sofern das überhaupt möglich war. Vielleicht würden sie ja mal wieder ein Tor schießen oder eine Partie nur einstellig verlieren, vielleicht sogar die nächste Runde erreichen. Okay, guter Witz, zumindest wollte er ihnen ein wenig Würde zurückgeben. Aber dann erreichten sie Unglaubliches: Sie gewannen ein WM-Qualifikationsspiel. Alle großen internationalen Medien berichteten, die BBC, die New York Times, der Spiegel. Später entstand eine Dokumentation, dieses Jahr kommt ein Spielfilm mit Michael Fassbender in die Kinos. Wie um alles in der Welt hatten sie das geschafft?
Thomas Rongen ist schon lange nicht mehr im Südpazifik. Er lebt an der US-amerikanischen Ostküste und arbeitet als Analyst für mehrere Fernsehsender und kommentiert Spiele von Inter Miami. Das Team von Amerikanisch-Samoa verfolgt er bis heute, mit einigen ehemaligen Spielern ist er befreundet. Das, was im November 2011 geschah, schweißte sie auf ewig zusammen. Und Rongen ist sofort mittendrin, wenn er daran zurückdenkt. „Alles begann mit diesem Anruf“, sagt er. „Ich sagte schnell zu. Es interessierte mich, warum die Spieler überhaupt noch antreten, obwohl sie jedes Mal so haushoch verlieren. Außerdem war ich noch nie in dem Teil der Erde gewesen, ich dachte, das könnte spannend werden.“
Fünf Spieler hatten Übergewicht
Die Inseln von Amerikanisch-Samoa sind ein Außengebiet der Vereinigten Staaten und liegen etwa 3000 Kilometer nördlich von Neuseeland. Die meisten der 50000 Einwohner sind in der Fischindustrie tätig. Der beliebteste Sport ist American Football, das beliebteste Essen ist Fast Food: 2009 hatten über 93 Prozent der Einwohner einen stark erhöhten Body-Mass-Index, eine Zeitung schrieb vom „fettesten Land der Welt“.
Das alles wusste Thomas Rongen zwar, trotzdem war er geschockt, als er zur Mannschaft stieß. Fünf Spieler hatten ein Übergewicht von 15 bis 20 Kilogramm. Sie konnten nicht mal zehn Minuten durchhalten. Erst mal redete er es sich schön, der Fußball sei so pur gewesen, wie er ihn seit seiner Kindheit in Amsterdam nicht mehr erlebt hätte. Aber nach der ersten Einheit war ihm endgültig klar: „Das ist das schlechteste Level internationalen Fußballs, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.“ Bis zum ersten Spiel gegen Tonga blieben ihm drei Wochen Zeit. Die Sache schien aussichtslos.
In den Jahren zuvor hatten es immer wieder erfahrene Trainer aus Europa oder den USA auf den Inseln versucht. Alle waren gescheitert. Einige hatten nicht erwartet, dass die spielerische Qualität wirklich so schlecht sein würde. Andere ließen sich nicht auf die Kultur und die Menschen vor Ort ein. „Fußball ist ein Spiel, in dem man gewinnen, unentschieden spielen oder verlieren kann. Außer Amerikanisch-Samoa – die können nur verlieren“, sagte mal einer dieser Trainer. Bei den Einheimischen hießen die Fremden „Balangi“, ein abschätziges Slangwort für „Weißer Mann“.
„Das war der schlechteste Fussball, den ich in meinem ganzen Leben gesehen habe“
Auch Rongen trat anfangs nicht so auf, als wollte er ihr bester Freund werden. Er war streng, verbot den Spielern das Rauchen im Zimmer, schimpfte über ihre Lethargie und legte sich mit einem Funktionär an. Er beraumte jeden Tag zwei Trainingseinheiten an, er ließ sie laufen und schwitzen, machte Leistungstests, und weil es keine regelmäßigen Busverbindungen gab, holte er viele von ihnen selbst mit einem Minibus im Morgengrauen an ihren Häusern ab und brachte sie nach den Einheiten zu ihren Fischerbooten. Wenn Ältere im Team nicht mitzogen, wurden sie durch Jüngere ersetzt. Innerhalb weniger Tage zerstörte Rongen so alte Hierarchien und Routinen – und brachte viel in Bewegung.
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