Die Verwandlung 11FREUNDE

Publish date: 2024-10-25

Diese Repor­tage erschien erst­mals in unserem 11FREUNDE-Spe­zial Rekorde“. Das Heft gibt’s am Kiosk und hier im Shop.

Am Ende ver­loren sie auch noch den Über­blick. Auf der Anzei­ge­tafel fla­ckerten die Zahlen 32 und 0. Der Schieds­richter kor­ri­gierte das Ergebnis später in seinem Bericht, Aus­tra­lien hatte näm­lich nur 31 Tore geschossen. Nicht in zehn Spielen, nicht in einer Saison, son­dern in 90 Minuten. Es war der höchste Sieg, den je eine Mann­schaft in einem inter­na­tio­nalen Fuß­ball­spiel erreicht hatte. Oder eben: die höchste Nie­der­lage. Der Ver­lierer war die Natio­nalelf von Ame­ri­ka­nisch-Samoa. Sie wurde nach dem Spiel, mehr oder weniger offi­ziell, zur schlech­testen Fuß­ball­mann­schaft der Welt erkoren. In der FIFA-Welt­rang­liste belegte sie Platz 203 von 203. Sie war ein Slap­stick-Team, eine Lach­nummer, eine Mischung aus Cool Run­nings und Eddie The Eagle. Denn diese Nie­der­lage war kein Zufall. Auch in den zwei Jahr­zehnten zuvor hatten sie ja jedes Spiel ver­loren, oft kra­chend, selbst gegen Teams, die ihrer­seits nicht gerade als Fuß­ball­groß­mächte durch­gehen: 0:13 gegen Fidschi, 0:18 gegen Tahiti, 0:20 gegen Papua-Neu­guinea, und es schien immer so wei­ter­zu­gehen.

Aber dann machte sich im Oktober 2011, rund zehn Jahre nach der Schmach gegen Aus­tra­lien, der Hol­länder Thomas Rongen auf den Weg nach Ame­ri­ka­nisch-Samoa. Zu Beginn seiner Pro­fi­kar­riere hatte er beim Ams­ter­dam­sche FC gespielt, mit Anfang 20 war er in die USA aus­ge­wan­dert. In der NASL lief er für die Los Angeles Aztecs und die Fort Lau­derdale Stri­kers auf. Er spielte gegen George Best und sein Idol Johan Cruyff, später wurde er selbst Trainer ver­schie­dener MLS-Teams und der US-ame­ri­ka­ni­schen U20-Natio­nalelf. Nun aber hatte er ein son­der­bares Job­an­gebot des US-ame­ri­ka­ni­schen Fuß­ball­ver­bands ange­nommen: Er sollte die Natio­nalelf von Ame­ri­ka­nisch-Samoa durch die WM-Qua­li­fi­ka­tion führen. Sie tak­tisch und tech­nisch besser machen, sofern das über­haupt mög­lich war. Viel­leicht würden sie ja mal wieder ein Tor schießen oder eine Partie nur ein­stellig ver­lieren, viel­leicht sogar die nächste Runde errei­chen. Okay, guter Witz, zumin­dest wollte er ihnen ein wenig Würde zurück­geben. Aber dann erreichten sie Unglaub­li­ches: Sie gewannen ein WM-Qua­li­fi­ka­ti­ons­spiel. Alle großen inter­na­tio­nalen Medien berich­teten, die BBC, die New York Times, der Spiegel. Später ent­stand eine Doku­men­ta­tion, dieses Jahr kommt ein Spiel­film mit Michael Fass­bender in die Kinos. Wie um alles in der Welt hatten sie das geschafft?

Thomas Rongen ist schon lange nicht mehr im Süd­pa­zifik. Er lebt an der US-ame­ri­ka­ni­schen Ost­küste und arbeitet als Ana­lyst für meh­rere Fern­seh­sender und kom­men­tiert Spiele von Inter Miami. Das Team von Ame­ri­ka­nisch-Samoa ver­folgt er bis heute, mit einigen ehe­ma­ligen Spie­lern ist er befreundet. Das, was im November 2011 geschah, schweißte sie auf ewig zusammen. Und Rongen ist sofort mit­ten­drin, wenn er daran zurück­denkt. Alles begann mit diesem Anruf“, sagt er. Ich sagte schnell zu. Es inter­es­sierte mich, warum die Spieler über­haupt noch antreten, obwohl sie jedes Mal so haus­hoch ver­lieren. Außerdem war ich noch nie in dem Teil der Erde gewesen, ich dachte, das könnte span­nend werden.“

Fünf Spieler hatten Über­ge­wicht

Die Inseln von Ame­ri­ka­nisch-Samoa sind ein Außen­ge­biet der Ver­ei­nigten Staaten und liegen etwa 3000 Kilo­meter nörd­lich von Neu­see­land. Die meisten der 50000 Ein­wohner sind in der Fisch­in­dus­trie tätig. Der belieb­teste Sport ist Ame­rican Foot­ball, das belieb­teste Essen ist Fast Food: 2009 hatten über 93 Pro­zent der Ein­wohner einen stark erhöhten Body-Mass-Index, eine Zei­tung schrieb vom fet­testen Land der Welt“.

Das alles wusste Thomas Rongen zwar, trotzdem war er geschockt, als er zur Mann­schaft stieß. Fünf Spieler hatten ein Über­ge­wicht von 15 bis 20 Kilo­gramm. Sie konnten nicht mal zehn Minuten durch­halten. Erst mal redete er es sich schön, der Fuß­ball sei so pur gewesen, wie er ihn seit seiner Kind­heit in Ams­terdam nicht mehr erlebt hätte. Aber nach der ersten Ein­heit war ihm end­gültig klar: Das ist das schlech­teste Level inter­na­tio­nalen Fuß­balls, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.“ Bis zum ersten Spiel gegen Tonga blieben ihm drei Wochen Zeit. Die Sache schien aus­sichtslos.

In den Jahren zuvor hatten es immer wieder erfah­rene Trainer aus Europa oder den USA auf den Inseln ver­sucht. Alle waren geschei­tert. Einige hatten nicht erwartet, dass die spie­le­ri­sche Qua­lität wirk­lich so schlecht sein würde. Andere ließen sich nicht auf die Kultur und die Men­schen vor Ort ein. Fuß­ball ist ein Spiel, in dem man gewinnen, unent­schieden spielen oder ver­lieren kann. Außer Ame­ri­ka­nisch-Samoa – die können nur ver­lieren“, sagte mal einer dieser Trainer. Bei den Ein­hei­mi­schen hießen die Fremden Balangi“, ein abschät­ziges Slang­wort für Weißer Mann“.

Das war der schlech­teste Fuss­ball, den ich in meinem ganzen Leben gesehen habe“

Auch Rongen trat anfangs nicht so auf, als wollte er ihr bester Freund werden. Er war streng, verbot den Spie­lern das Rau­chen im Zimmer, schimpfte über ihre Lethargie und legte sich mit einem Funk­tionär an. Er beraumte jeden Tag zwei Trai­nings­ein­heiten an, er ließ sie laufen und schwitzen, machte Leis­tungs­tests, und weil es keine regel­mä­ßigen Bus­ver­bin­dungen gab, holte er viele von ihnen selbst mit einem Minibus im Mor­gen­grauen an ihren Häu­sern ab und brachte sie nach den Ein­heiten zu ihren Fischer­booten. Wenn Ältere im Team nicht mit­zogen, wurden sie durch Jün­gere ersetzt. Inner­halb weniger Tage zer­störte Rongen so alte Hier­ar­chien und Rou­tinen – und brachte viel in Bewe­gung.

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