Gefahr der Willkr - Zum Stimmungsboykott bei Hannover 11FREUNDE

Der Großteil des Stadions raste vor Euphorie, doch in Block N16 und N17 herrschte Stille. Es war ein packendes Spiel zwischen Hannover 96 und Borussia Dortmund am vergangenen Spieltag. Torchancen en masse, viele Zweikämpfe, ein spätes Tor für die Gastgeber. Und dennoch verfolgten viele Fans teilnahmslos das Geschehen. Dort, wo gewöhnlich lautstark getrommelt und gesungen wird, schwiegen die Fans. Die Erklärung folgte auf einem im Stadion verteilten Flyer: „Um nicht durch weitere unbedachte Aktionen wie singen, schreien, Fahnen aufhängen oder jubeln gegen die geheimen Regeln zu verstoßen, haben wir gar keine andere Wahl als schweigend unsere Plätze einzunehmen“, hieß es dort in sarkastischem Ton. Unterzeichnet mit „Fanszene Hannover“.
Haarmann – zwischen Abscheu und Folklore
Hannovers Fans waren in den vergangenen Wochen in den Blickpunkt geraten. Beim Auswärtsspiel in Wolfsburg hatten einige Mitgereiste den ehemaligen Hannoveraner Emanuel Pogatetz heftig beleidigt, woraufhin Klubpräsident Martin Kind mit ebenso harschen Worten reagiert hatte: „Teile unserer Fans sind Arschlöcher“. Außerdem hatte die Bild-Zeitung nach dem ersten Saisonspiel gegen Schalke 04 getitelt: „Hannover-Fans jubeln mit Serien-Mörder“. In dem Artikel ging es um eine seit 2007 im Fanblock verwendete Fahne mit dem Porträt von Fritz Haarmann. Haarmann war 1924 wegen des Mordes von 24 Menschen zum Tode verurteilt worden. Die Rezeption seiner Person ist umstritten: Auf der einen Seite wird Haarmann für seine Taten verabscheut, auf der anderen Seite wie eine folkloristische Figur behandelt – vergleichbar mit „Jack the ripper“. So druckte einst die Hannover Marketing und Tourismus GmbH in der Vorweihnachtszeit „einen Kultkalender mit Fritz Haarmann“ („Neue Presse“) oder planten die Organisatoren der Expo eine „Haarmann-Meile“.
Drei Tage vor dem besagten Spiel zwischen Hannover und Dortmund erhielt der Schwenker der Haarmann-Fahne Post von Hannover 96: ein Hausverbot im Stadion von Hannover 96, unterzeichnet von Martin Kind. An diesem Tag entschloss sich die „Fanszene Hannover“ zum Stimmungsboykott im Europapokalspiel gegen Levante und gegen Borussia Dortmund.
„Geschmacksfragen werden zu Fragen des Rechts“
Allerdings gilt bei den Fans das Hausverbot nur als „letzter Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat“. Jannis Busse von den Ultras Hannover erklärt auf Nachfrage: „Es geht nicht mehr nur um die Fritz-Haarmann-Fahne. Sondern vielmehr darum, ob ein Verein über die Frage des guten Geschmacks entscheiden kann.“ So finden sich in den Reihen der Unterstützer „auch bekennende Gegner der Haarmann-Fahne“, wie es im Flyer heißt. Sie treibt die Sorge an, ein Verein könne nach Belieben gegen Fahnen und Botschaften im Stadion vorgehen. „Es gibt keine Ordnungen oder Richtlinien, auf die man sich bei dem Verbot bezieht“, sagt Busse. „Wir sehen deswegen die Gefahr, dass der Verein willkürlich jegliche Meinungsäußerungen untersagen kann.“
Auf dem Blog „sechsundneunzig.com“ findet sich dazu eine juristische Aufarbeitung des Falls – mit einem Verweis auf die AGBs, die Spruchbänder mit anstößigen, böswilligen, provokanten oder den Ruf der Veranstaltung beeinträchtigenden Inhalt verbieten. Der Autor resümiert: „Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass mit diesen Klauseln aus Geschmacksfragen Fragen des Rechts gemacht werden sollen, indem der Zuschauer (…) an das Geschmacksempfinden des Veranstalters gebunden wird.“ Mit anderen Worten: Auf dieser Grundlage könnte ein Verein als Veranstalter frei verfügen, was anstößig ist – und damit beispielsweise auch vereinskritische Kommentare aus den Fanblöcken verbannen.
Einen ähnlichen Fall wie in Hannover gab es in Mainz, wo Fans die Symbolik der RAF auf einem Plakat übernahmen. Daniel Meuren riet in einem Kommentar der FAZ den Vereinen zu mehr Gelassenheit. „Eine offene Gesellschaft, die sich Satire gestattet und als Kunstform versteht, muss aber auch mit bissigen Stellungnahmen aus Fankurven zurechtkommen, solange nicht Menschen direkt verunglimpft werden“, schrieb er. Die Vereine allerdings spüren den Druck des DFB, der Hannover mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens drohte, falls die Fahne noch einmal im Stadion zu sehen sei.
Kind: „Da wird mir übel“
Martin Kind verteidigt gegenüber 11FREUNDE das Hausverbot: „Diese Fahne hat in unserem Stadion nichts verloren. Das ist meine persönliche Beurteilung, ich trage die Verantwortung. Ich weiß, dass man das anders sehen kann, aber ich habe da meine moralischen Prinzipien. Wenn ich daran denke, dass meine Enkel dieses Plakat sehen und ich es erklären muss, dann wird mir übel.“ Gleichwohl räumt Kind jedoch ein, dass man „die Vorschriften bei Spruchbändern konkretisieren“ müsse. Die Entscheidung des Klubs sei kein Urteil über Fragen des Geschmacks. „Haarmann wurde verurteilt, es gibt reproduzierbare Fakten. Über Fragen des Geschmacks können wir diskutieren“, sagte Kind.
Kind verweist auf weitere Vorfälle aus dem Fan-Umfeld wie die Beleidigungen gegenüber Pogatetz und das Abbrennen von Pyrotechnik. „Wir haben insgesamt ein gutes Verhältnis und führen seit drei Jahren konstruktive Gespräche. Allerdings habe ich derzeit den Eindruck, dass das eine Einbahnstraße ist. Wir erfüllen Wünsche, doch Teile der Fans verstoßen gegen Regeln.“ Die Fans wiederum bemängeln die Kommunikation von Vereinsseite. Man habe kurz nach Saisonbeginn Gespräche mit Martin Kind geführt. „Von einem Verbot der Fahne war allerdings keine Rede“, sagt Jannis Busse von den 96-Ultras. „Dann aber kam am Tag des Levante-Spiels das Hausverbot per Post. Da hatten wir das Gefühl, dass man sich auf das Wort der Verantwortlichen nicht mehr verlassen kann.“
Verbot einer Choreografie wegen Sponsor
Sauer aufgestoßen ist den Fans zudem das Verbot einer Choreografie, bei der laut Ultras „das Wort ‚AWD-Arena‘ auf dem Verkehrsschild durch ‚Niedersachsenstadion‘ ersetzt werden sollte“. Martin Kind sagt dazu: „Wir haben die Choreografie verboten, weil sie sich gegen einen Partner von uns richtete. Wenn wir so etwas zulassen würden, dann könnten wir in Zukunft jede Partnerschaft an die Wand hängen.“
Die Stimmungslage innerhalb der Fanszene ist gespalten. Zwar gab es für die schweigende Szene spöttische „Auf Wiedersehen“-Rufe nach Spielschluss gegen Dortmund, doch auch eine große Anzahl von Unterstützern, die nicht den Ultras angehören. Der Diskussionsthread zu diesem Thema auf der Seite „das-fanmagazin.de“ wuchs auf über 140 Seiten. Die Ultras haben alle Fans am Mittwoch zu einem Treffen geladen, es sollen etwa 200 Fans gekommen sein.
Verein und Fans treffen sich am Freitag
Am Freitag soll der Dialog zwischen Fanszene und Verein weitergeführt werden. Die Erwartungen der Beteiligten gehen jedoch auseinander. „Wir haben dem Verein eine Frist gesetzt, um das Hausverbot zurückzunehmen. Wir warten jetzt erst einmal ab, was passiert“, sagt Jannis Busse von den Ultras. „Ich kann nicht verantworten, dass in unserem Stadion die Plattform für einen Massenmörder gegeben wird“, sagt Martin Kind. Und weiter: „Es handelt sich hierbei um ein Hausverbot, das nur für Hannover gilt und zeitlich beschränkt ist. Ich denke, dass der Betreffende weiß, was wir damit sagen wollen.“
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